Früher. Früher habe ich oft von dir geträumt. Jetzt hat die Realität die Träume eingeholt. Überflügelt. So viel Realität, dass es weh tut. So schön, dass es blendet.
Ich brauche die handfeste Wirklichkeit, will schmecken, riechen, fühlen, verschlingen. Ich kriege nicht genug davon. Auf Knien bettle ich nach mehr. Ich ziehe dich aus, bis nur mehr das nackte Erstaunen in deinen Augen von dir übrig bleibt. Ich wühle in deinem Haar, das du jetzt länger trägst. Für mich. Damit ich mehr von dir habe. Mehr anzufassen, mehr festzuhalten. Rieche daran. Zähle deine Narben, streichle sie. Du sagst, sie schmerzen dich manchmal. Kein richtiger Schmerz, du spürst nur, dass sie da sind. Dein Bauch ist wie ein Stein in der Sonne, hart und warm. Er riecht auch so. Du küsst mich, auf die Wange, auf die Schulter, noch nicht auf den Mund.
Es fasziniert mich immer wieder. Wie du dich dagegen wehrst, die Kontrolle über dich und über mich zu verlieren. Wie du die Schwerkraft vorziehen würdest und nichts dagegen tun kannst, dass unsere Flügel im Gleichtakt schlagen. Du verziehst das Gesicht, als ob du Schmerzen leiden würdest, umklammerst mich, als würdest du ertrinken in deinem Meer von Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Regeln und Illusionen. Du verlierst den Halt, rutschst weg und verlierst dich in gestammelten Worten, rücksichtslosen Küssen und purer Verzweiflung. Unsere Träume sind schon etwas mitgenommen, unsere Flügel zerfleddert. Die Schwerkraft fordert ihren Tribut. Aber wir geben nicht auf.
Du baust Mauern mit bedächtig gewählten Worten. Worte wie Ziegelsteine, dein zurückhaltendes Lächeln ist der Mörtel, der mich hindert, die Mauern einzureißen. Manchmal, wenn unsere Blicke gleichzeitig auf etwas fallen, was kein Anderer sehen kann, macht sich eine Ahnung bemerkbar, wie es auch noch sein könnte.
Wenn wir bloß aufhörten, uns anzulügen, wir stießen auf reine Poesie. Auf die Unschuld, die uns immer begleitet hatte.
Früher.
Verdammter Heuschnupfen, denke ich noch, irgendwann krieg' ich bestimmt Asthma davon.
Ich kann nicht schlafen. Meine Brust schmerzt. Ich liege auf dem Bauch und versuche, tief Luft zu holen, habe das Gefühl zu ersticken. Verdammter Heuschnupfen, denke ich noch, irgendwann krieg' ich noch Asthma davon.
Mir fallen die 10 Zigaretten ein, die ich gerade geraucht habe, eine nach der anderen, während ich vor meinem Notebook saß. Instinktiv will ich den Gedanken schon als lächerlich abtun, da meldet sich doch mal mein Verstand zu Wort. Natürlich liegt es an den Zigaretten, dass du hier liegst und nach Luft schnappst wie ein Fisch auf dem Trockenen, nicht am Heuschnupfen, Pringle. Wem willst du hier eigentlich was vormachen?
Aber diesmal macht nicht nur der Verstand auf sich aufmerksam, sondern auch der Körper. Mir bleibt nämlich für einen Augenblick die Luft weg. Nur eine Sekunde oder so. Eine Sekunde, die mir ziemlich lange vorkommt, eine Sekunde, die mich zu Tode erschreckt. Und mich an das ganze Geschwafel in den Medien erinnert, die guten Ratschläge von Nicht- oder Nicht-mehr-Rauchern, an den Herzinfarkt meines Vaters und das Buch, dieses verdammte Buch, das ich fünf Mal umsonst gelesen habe. Ich sollte auch eines schreiben. "Immer noch Raucher" oder so. Im Halbschlaf denke ich mir noch: Vielleicht sollte ich auch einfach mit dem Rauchen aufhören.
Ich wache auf, gehe ins Wohnzimmer und stoße auf eine Wand aus kaltem Rauch. Da war doch was? Ach ja, ich habe doch gestern tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, das Rauchen aufzugeben. Wieder mal. Ich lächle ein hoffnungsloses Lächeln. Unter der Dusche drängt sich mir der Gedanke wieder auf. Hartnäckig diesmal.
Was, wenn ich es einfach tun würde? Ohne lang hin und her zu überlegen, ohne großes Nachdenken? Und zwar nicht nur weniger rauchen, eine Woche nicht rauchen oder nur bei besonderen Gelegenheiten. Einfach überhaupt nicht mehr rauchen. Keine gelben Finger mehr, kein verrauchtes Wohnzimmer, kein Zahnstein, kein Atem wie ein voller Aschenbecher, keine Spesen. Nie mehr sinnlos in der Kälte herumstehen, nie mehr mitleidig belächelt oder diskriminiert werden. Ich müsste keine Angst vor Thrombosen oder Lungenkrebs haben, würde den Raucherhusten loswerden und hätte mehr Zeit.
Ich beschließe, erst mal keine anzuzünden, bis ich mir darüber im Klaren bin, was ich tun werde, und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Dort angekommen, stelle ich zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder Rechungen zu meinem Zigarettenkonsum an. Nein, die Arbeit kann warten, das ist jetzt wichtig.
Eine Raucherkarriere von 13 Jahren. Das bedeutet 57.340 Zigaretten. 8.600 Euro, die in Rauch aufgegangen sind. Der Preis für einen gut erhaltenen Kleinwagen zweiter Hand. Aber was ist schon Geld gegen diese unbezahlbaren Momente, in denen man mit lässig im Mundwinkel hängender Zigarette gerade so richtig cool ist. Wie damals, als... äh?!? Oh je.
Der finanzielle Aufwand regt mich nicht allzu sehr auf. Was jedoch ist mit der Zeit? Zeit ist kostbarer als Geld. 57.340 gerauchte Kippen sind 258.030 verschwendete Minuten. Das sind 179 Tage oder 25 Wochen meines Lebens. Ein halbes Jahr damit verbracht, sich die Lunge mit Rauch vollzupumpen und die Luft zu verpesten. In einem halben Jahr hätte ich so vieles machen können. Einen Drachenfliegerkurs, eine Reise um die Welt, ich hätte kochen lernen können, oder Norwegisch oder richtig gut Gitarre spielen. 179 Tage, in denen ich nur halb bei der Sache war, weil ich stumpfsinnig auf einem Glimmstengel herumpaffte.
Ich lächle, schon nicht mehr ganz so hoffnungslos. Also gut, denke ich mir, versuchen wir es.
Im selben Moment meldet sich zum Glück wieder mein Verstand. "Versuchen wir es" ist nicht genug. Ah ja. Daran bin ich auch schon gescheitert. Ich weiß, ich muss es wollen und die Sucht bekämpfen. Versucht habe ich es schon oft. Aber mit der laxen Einstellung "Mal schauen, wenn's klappt, is' gut, wenn nicht, auch hab ich's wenigstens versucht" bin ich noch nie weit gekommen. Ich kenne mich und meine Neigung zum Selbstbetrug, was das Rauchen angeht, mittlerweile gut genug. Deshalb beschließe ich, hart zu mir selbst zu sein.
Ich werde nicht verschweigen, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Ich werde es allen sagen, die mich darauf ansprechen. Ich werde nicht davon ausgehen, dass ich es nicht schaffen könnte. Ich will absolut nicht mehr rauchen, nie mehr, und werde es daher auch nicht mehr. Ich will wieder frei sein. Ohne die Süchtlerstimme in meinem Kopf, die mich jedesmal an eine Zigarette denken lässt, wenn ich unter Stress stehe, traurig bin, ein Bier trinke oder gerade Sex hatte.
Den Gedanken, mir einen Ersatz für die Kippen zu beschaffen, verwerfe ich sofort wieder, weil mir einfällt, wie ich vor zwei Monaten schon mal mit dem Rauchen aufhören wollte. Ich kaute den ganzen Tag lang auf wässrigen Biomöhren herum, die nur bewirkten, dass ich mich zum Gespött der Arbeistkollegen machte. Außerdem hätte ich schwören können, dass meine Haut anfing, gelb zu werden.
Aber jetzt kommt der Schlüsselmoment. Vielleicht kommt er auch nicht jetzt sofort, aber innerhalb der nächsten drei Tage bestimmt. Drei Tage braucht man, um sich von der körperlichen Abhängigkeit zu lösen. Der kurze Moment aber, der den ganzen Plan zum Scheitern bringen kann, spielt sich auf der psychischen Ebene ab und entlarvt den Raucher als hilflose Marionette seiner Sucht: es ist der vollkommen irrationale Augenblick der Panik in einer Situation, in der einem irgendein spinnerter Rezeptor im Gehirn weismachen will, eine Zigarette zu brauchen. Oder dass man es eh nicht schaffen wird.
Der Gedanke "Was mache ich bloß, wenn ich nicht durchhalte, und dann habe ich keine Zigaretten in Reichweite?" ist der schlimmste.
Nicht durchhalten kommt gar nicht in Frage. So schaut's aus.
Ich schlage die Gitarre an die Wand, zerschmettere sie in kleine Stücke und tanze auf den Überresten. Dann erwürge ich dich mit der E-Saite.
Hätte ich sie mir nicht schon an dir ausgebissen, ich würde meine Zähne in dein Fleisch hauen, sie tief in dir vergraben und genießerisch zusehen, wie du dich unter Schmerzen windest. Wie oft bin ich mit meinem Dickkopf gegen diese Mauern gerannt. Meine. Deine. Ich habe geflucht, geschrien, geschlagen. Gelitten, gelästert. Verflucht.
Geliebt. Natürlich. Ich könnte dich nicht lieben, würde ich nicht an dir verzweifeln. Hätte ich Gewissheit, würde ich dich benutzen. Manipulieren. Und wenn ich genug von dir hätte, würde ich dich wegwerfen. Aber Gewissheit ist das Letzte, was ich von dir will. Ich will das Flackern der Flamme, nicht die Kerze, das Rauschen der Wellen, nicht das Meer. Eine Melodie, die nur wir beide hören. Flüchtige Empfindungen, die in dem Moment vorbei sind, in dem sie wahrgenommen werden. Die nackte Wahrheit. Das Leben, ungeschönt. Ich will keine Versprechungen, keine Sicherheit, keine Erklärungen. Ich will nicht erwachsen sein. Nicht so ernst bitte. Ich will keine Treue. Nur dich. Planlos, ziellos, sprachlos. So wie du eben bist.
Aber jetzt hast du leider alles kaputtgemacht.
Also nehme ich meine ganze Wut zusammen und mache dieser unerträglichen Leichtigkeit ein Ende. Stürme deine Mauern. Trete Türen ein. Meine Blicke bringen Schlösser zum Schmelzen. Ich zerstöre deine kleine, ordentliche Welt, in die du sowieso nicht hineinpasst. In der ich keinen Platz habe. Zu wild meine Blicke. Zu laut meine Schreie. Zu schmutzig meine Gedanken. Zerschmettere alles, an dem du so hängst. All dein anderes Spielzeug. Musik? Du hast vor ihr gleich wenig Respekt wie vor mir. Ich weiß, du würdest dich jederzeit verkaufen. Uns beide verraten. Mich und die Musik.
Ich sagte, ich will deine Treue nicht. Behalt sie. Aber, verdammt noch mal, sei dir selbst treu, du elender Schuft.