pappa molle
oder
Das Tagebuch vom Kieferbruch, Teil 2
Im Krankenhaus der nächstgrößeren Stadt angekommen, wurde ich zunächst einmal von einem sehr spaßigen Arzt untersucht, der den Chefarzt auch noch dazu holte, um die Möglichkeiten zu besprechen. Möglichkeit 1 war eine OP, bei der man mich längs vor dem Ohr aufschnitt, um dann am Gesichtsnerv vorbei zum Kiefer zu fahren und dort zwei Stahlplatten einzubauen. In der Folge würden meine Kiefer zusammengeschraubt, für den Heilungsprozess. Der Haken: zog dieser Eingriff besagten Nerv auch nur in Mitleidenschaft, wären etwaige Folgeschäden nicht ausgeschlossen (ein Augenlid, das nicht mehr richtig schließt, herabhängende Mundwinkel oder sonstige spaßige Veränderungen der Mimik).
Ich hatte mich in dem Moment schon für Möglichkeit 2 entschieden. Der Ordnung halber wurde mir - und Mister Pringle, der als Ingenieur einige technische Fragen hatte, die ihm etwas zu genau erklärt wurden, er ist halt doch feinfühlig für einen Techniker, im Gegensatz zu den beiden Herren in Weiß - auch diese ausführlich erklärt. Ich sollte 4 Schrauben in Ober- und Unterkiefer bekommen, an denen mit Gummibändern die Kiefer zusammengehängt würden und sich so keinen Millimeter mehr bewegen könnten. Das bliebe dann für 3 Wochen so, und wenn ich dann intensive Mundgymnastik betreiben würde, stünden die Chancen gut, dass alles wieder so wäre wie vorher.
Und genau so geschah es. Nach einigem Herumgerenne, ich war bei einer fluchenden Radiologin, die eine Berufsanfängerin einwies, bei einem übergewichtigen Zahnarzt, der höchst erfreut meinte, normalerweise kämen die Leute aus der Ersten Hilfe mit den Zähnen in der Hand zu ihm, nicht im Mund, haha, und der mir dann Maurer-style provisorische Füllungen verpasste, die nicht bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus halten sollten, ging es auch schon ans Werk. Mithilfe eines Schraubenziehers und örtlicher Betäubung (4 Spritzen).
Danach musste ich noch dort bleiben, was nach anfänglichem Kampf mit der IV (gegen die ich nach einem Tag rebellierte) fast schon in einen Wellnessurlaub ausartete. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, nach einem Tag brauchte ich auch die Schmerzmittel nicht mehr. Und Antibiotika sollte ich noch 10 Tage nehmen, eine weise Entscheidung, wie sich in meiner letzten Nacht im Krankenhaus herausstellte, in der man mir eine akute Mandelentzündung mit geschätztem Kampfgewicht von 130 kg ins Zimmer parkte, die sich ständig über alles beschwerte.
Am Montag schließlich wurde ich entlassen, mit einer Prognose von weiteren 2einhalb Wochen und geplanter Kontrollvisite in 8 Tagen.
oder
Das Tagebuch vom Kieferbruch, Woche 1
Was soll ich sagen? Andere tragen ein paar blaue Flecken davon, wenn sie ohnmächtig werden, Pringle ein blaues Auge, 2 Platzwunden an Kinn und Unterlippe, 3 kaputte Zähne (bis auf weiteres, eine volle Bestandsaufnahme war noch nicht möglich) und einen gebrochenen Unterkiefer.
Die Schulter knackt auch so seltsam, was ich vorerst zu ignorieren gedenke.
Die Dynamik war folgendermaßen: um halb vier Uhr morgens wurde mir übel, was ich zunächst auf übermäßigen Proseccogenuss mit Miss S. zurückführte, angesichts der doch recht gemäßigten Mengen, die konsumiert wurden, doch etwas unwahrscheinlich anmutete. Egal, ich begab mich ins Bad, kotzte mir erst mal die Seele aus dem Leib, um gleich darauf von einer Art Blitzmagengrippe (so sagte mir der Arzt im Nachhinein) ans Klo gefesselt zu werden. Als ich aufstand, hatte mein Körper keinen Tropfen Flüssigkeit mehr in sich, weshalb ich umfiel - und dabei wohl sämtliches Badmobiliar mitnahm. Schließlich fand mich auch Mister Pringle, der sofort eine Ambulanz verständigte.
Ich hatte zunächst abgewinkt, als er mir aber erklärt hatte, dass ich ganze zwei Mal hingefallen sei (das erste Mal hatte ich mir anscheinend nicht allzu sehr weh getan) und ich ein paar Zahnstückchen hustete, ließ ich mich freiwillig zum Rettungswagen führen.
In der Ersten Hilfe nähte ein übernächtigter Doktor mein Kinn und meine Lippe, und bei der darauf folgenden CT stellte man den gebrochenen Unterkiefer fest. Genau genommen war es das Kiefergelenkknöpfchen, das den Kampf gegen die Armaturen im Bad verloren hatte. Seltsam, es tat gar nicht so weh. Ich plapperte munter weiter, bis die resolute Schwester S. irgendwann fragte: "Sag mal, tut das nicht WEH?" Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und verstummte.
Ich wurde stationär aufgenommen und erst mal 12 Stunden dort liegen gelassen. Alle paar Stunden kam eine Schwester zum Fiebermessen, anscheinend hatte ich um die 38,5. Bakterieller Infekt, Antibiotikum IV. Der Chefarzt eröffnete mir schließlich, dass ich am nächsten Tag in ein anderes Krankenhaus verlegt würde, das einzige in der Provinz, wo erfahrene Kieferchirurgen zu finden seien. Der Bruch gehöre wohl operiert, und das innerhalb einer Woche.
Der Zeitpunkt meines Unfalls war spektakulär gewählt: ausgerechnet an diesem Tag sollte mein Neffe zur Welt kommen (um 10.10), außerdem hätte ich meinen Arbeitsvertrag für eine einmonatige Lehrvertretung an der Mittelschule unterschreiben sollen (ja, meine Jobsituation ist immer noch - oder wieder - beschissen, aber dazu an anderer Stelle mehr). Geknickt. Ich und der Job. Den Neffen habe ich heute, eine Woche später, immer noch nicht zu Gesicht gekriegt.
Wo war ich? Der Chefarzt. Man stellte mir frei, nach Hause zu gehen, ein Angebot, das ich ohne Zögern annahm, schon einmal rein aus der Überlegung heraus, erst mal Haare zu waschen und Zähne zu putzen. Und am nächsten Tag kam pünktlich um viertel nach acht Uhr morgens der Anruf, ich dürfte mich auf den Weg in das 80 km entfernte andere Krankenhaus machen, in den HNO-Olymp sozusagen. Der immer noch schockierte Mister Pringle begleitete mich.
...die Luft ist raus.
Alles wie gehabt. Erfahrungsgemäß folgte auf das Mikroskopieren dieser eh schon etwas zerfledderten Geschichte eine kurze Verschnaufpause, die aus gezwungenem Weglächeln zwischenmenschlicher Differenzen und gegenseitigem Misstrauen bestand, schließlich ein kleiner verbaler Hickhack, der von verletztem Stolz durchtränkt war und nun Funkstille. Nicht die schlechteste aller Ideen nach diesen anstrengenden Tagen. Weil ich weder mir noch dem Meister so recht traue, beruhigt mich das jetzt aber überhaupt nicht.
Gerade war es so nett. Das Sichtreibenlassen und Herumdümpeln im angenehm dahinplätschernden Gewässer trauter Zweisamkeit, die gerade deshalb so kostbar ist, weil zum gewohnten - Verzeihung, wiederentdeckten - explosiven Potential zwischen den Laken einiges an Respekt, Mitgefühl und Zärtlichkeit außerhalb der vier Wände dazugekommen ist.
Nach drei Wochen hatte der Meister darauf bestanden, dass wir uns öfter sehen. Was mir nur gelegen kam. Also sahen wir uns öfter. Dann noch öfter. Dann wurden wir unachtsam mit unseren Zärtlichkeitsbekundungen in der Öffentlichkeit. Was uns beiden nichts ausmachte. Es folgten gemeinsame Unternehmungen, innige Umarmungen, schläfrig-verträumte Momente, in denen wir uns ohne Worte verstanden und Wortgefechte, die vom Feinsten waren. Dann... wurde es ungemütlich. Und die alte Leier, die er in den letzten paar Tagen regelmäßig anstimmte, begann mich zu nerven wie ein Tinnitus. Gestern dann bekam ich meine drei Lieblingsworte zu hören.
"Wir müssen reden."
"Hmpf."
"Ich möchte nur sichergehen, dass du dich nicht verliebt hast."
"Hab' ich nicht. Du?"
"Spinnst du? Niemals!"
"Wieso kommst du überhaupt darauf? Hab' ich dich etwa verliebt angeguckt?"
"Weil sich alles, was wir tun, anfühlt wie eine Beziehung."
"Aha. Was denn?"
"Na ja, das Geküsse und das Ausgehen und die Tatsache, dass unsere Freunde Bescheid wissen..."
"Oha. Fehlt da nicht was?"
"Ich wüsste nicht was. Es ist so, als ob die Grenzen verschwimmen würden."
"Okay... was würdest du gerne anders machen?"
"Nichts. Gar nichts."
"Gut. Ich auch nicht. Und die Grenze ist für mich ganz klar."
"Aha, wo ist die denn?"
"An dem Punkt, wo keiner von uns in den anderen verliebt ist."
"Ah ja. Stimmt auch wieder."
"Fein. Falls ich mich verliebe, bist du der Erste, der's erfährt."
"Fein. Falls ich mich verliebe, werde ich dir das niemals sagen."
Es ist, als hätte man es mit einem Fremden zu tun, der einen mit süßen Worten eingewickelt hat, um sich dann tief unter der Haut festzusetzen, diese schließlich aufzureißen und sich im Schlaf lautlos davonzumachen. Gruselig.
Gestern vor einer Woche lagen wir im Freibad und genossen den freien Sommertag. Heute wirst du begraben.
Life's a bitch.
Auf Wiedersehen, Mister T. Danke für die schöne Zeit.
Die Pringle-Oldies und Frau Black Mamba helfen fleißig mit, damit die neue Wohnung Gestalt annimmt. Und so dübelte Vati dieses Wochenende die Vorhangstangen in die Wand und schloss die Waschmaschine an, während Mutti mir die Funktionsweise derselben erklärte und Black Mamba mit viel Fingerspitzengefühl den Made-in-China-Vorhang für den Balkon entwirrte. Yours truly schraubte währenddessen Stühle zusammen (Erfolgsquote: 50%, von vier Stühlen waren zwei kaputt. Ich nenne das IKEA-Roulette).
Beim Verlassen der Wohnung begegneten wir dem Typen aus der Wohnung gegenüber. Mutti so: "Wer ist das denn?" Ich so: "Mein Nachbar." Mutti: "Der ist heiß." Ich so: "Ich weiß." Mutti: "Kommt der gerade vom Ausgehen nach Hause?" Ich: "Mama, es ist Sonntag, 16 Uhr." Mutti: "Nicht? Dann ist er eh zu brav für dich."
So sehr ich mich darüber freue, dass sich so viele Menschen dafür interessieren: wenn man noch keine Zeile geschrieben hat, weckt diese Frage ein Gefühl der Beklemmung und - Versagensängste.
Sixie, mein Ex, ist ja das Abziehbild meines Vaters. Und so überraschte es mich nicht sonderlich, dass sowohl er, der Wirtschaftsberater, als auch mein alter Herr, der Freiberufler, mir auf meinem Weg in die Selbstständigkeit in keinster Weise behilflich waren, sondern sich darauf beschränkten, herumzuunken und mir das bisschen Freude an der neugewonnenen Freiheit zu vermiesen.
In meinem Groll gegen die zwei tat ich das einzig Vernünftige und wandte mich auf Empfehlung von Schwiegermama an eine WirtschaftsberaterIN. Und auf einmal scheint alles ganz einfach. Auch Mama Pringle und Mister Pringle unterstützen mich nach Kräften, und so schaue ich optimistisch in die Zukunft.
Mama Pringle zu Papa Pringle: "Wie viele Tore hat Italien gestern eigentlich geschossen?"
Papa Pringle: "Vier."
Ich, mit tadelndem Blick: "Na na na."
Papa Pringle: "Doch, geschossen haben sie vier. Eines wurde als Abseits gepfiffen, was heute widerlegt wurde, und beim anderen war der Ball schon im Tor, als er von einem Feldspieler wieder rausbefördert wurde."
Mama Pringle: "Och nein, dann hätten sie also gewonnen?"
Ich so: "Nein. Weil sie a bisserl spät angefangen haben mit dem Toreschießen, die Luschen."
Ich finde es eine Frechheit. So lange herumgurken, bis es brenzlig wird, dann zeigen, dass man ja haushoch überlegen sein könnte, wenn man nur wollte, um das Spiel letztendlich zu verlieren. Diesmal muss ich sagen: Geschieht euch recht. Spielt lieber mal mit Herzblut, ihr bescheuerten Taktiker.
Zeit zu gehen: Die Ex-Weltmeister nach Hause. Cannavaro in Pension. Buffon in den OP. Und ich ins Bett.